„Hubert, geh da nicht drauf. Ich glaube, das ist Kunst.“ Hubert Aiwanger hört nicht auf den gut gemeinten Ratschlag seines Parteikollegen – oder macht es gerade deshalb. Er steigt auf die große, runde Holzplatte, die in einem Frankfurter Park auf Beton befestigt ist. Sie ist Orange: die Parteifarbe der Freien Wähler. Wie so oft an diesem Tag ruft er seine hessischen Parteimitglieder zusammen und scharrt sie um sich für ein Foto. Die Frauen nach vorne.
Auf ihrer gemeinsamen Tour durch die Altstadt vergehen nie mehr als fünf Minuten, bis Aiwanger einen Grund für ein neues Foto entdeckt. Er posiert vor dem Dom, auf dem Römer und neben einer Toilette, weil dort ein Wahlplakat angebracht ist und im Hintergrund die Paulskirche zu sehen ist. Er postet die Fotos selbst: auf Facebook, Instagram, Twitter und Linkedin. Damit will er die Aufmerksamkeit, die ihnen von den klassischen Medien fehlt, über die sozialen Medien einholen.
Gegen den Strom schwimmen
Aufmerksamkeit – das versuchen die Freien Wähler mit ihrem Chef Hubert Aiwanger seit Monaten zu erkämpfen. Da sie viel kleiner sind als die etablierten Parteien, müssen sie sich erst einmal hör- und sichtbar machen, um ihr ehrgeiziges Ziel zu erreichen: fünf Prozent bei der Bundestagswahl. Aiwanger versucht es mit einem bewährten Mittel, auf das politische Außenseiter gerne zurückgreifen: Polarisierung. Dass er trotz des Ratschlags ein Kunstwerk besteigt – es passe zu seinem Charakter als Dagegen-Mann, sagt der Parteikollege, der ihn noch gewarnt hat. Hauptsache Kontra geben, gegen den Strom schwimmen, lautet Aiwangers Politikkonzept.
Seit fast drei Jahren ist Aiwanger – 50 Jahre, Vater von zwei Kindern – stellvertretender Ministerpräsident und bayerischer Wirtschaftsminister. Er ist das bekannteste Gesicht der Freien Wähler bundesweit, andere Polit-Promis gibt es so gut wie keine bei den Freien Wählern. Da war es schnell gesetzt, dass er Spitzenkandidat für die Bundestagswahl werden würde.
Impfdebatte “hat meine Bekanntheit sicherlich verdoppelt”
Der Landwirt mit dem niederbayerischen Dialekt, der nicht nur als Teil der CSU-geführten Landesregierung den Nörgler und Kontra-Mann gibt, sondern jetzt auch in der Bundespolitik alles anders machen will. Zuletzt hat er das im Juli bei der Corona-Impfung getan, und damit eine bundesweite Debatte ausgelöst. Er ist der einzige im bayerischen Kabinett, der sich bisher nicht hat impfen lassen. „Das hat meine Bekanntheit sicherlich verdoppelt“, sagt er. Aber er habe es nicht deshalb gemacht. Seine Impfeinstellung sei nur bekannt geworden, weil Markus Söder ihn zu einer öffentlichen Aussage gedrängt habe.
Arroganz oder Geltungssucht seien nicht seine Motive, beteuert er. Er wolle einfach wirklich etwas verändern. Die bürgerlichen Parteien seien zu weit nach links gerutscht, deshalb müssten die Freien Wähler, die bisher vor allem in den Kommunen vertreten waren, „den Laden Deutschland zusammenhalten“. Die Politik aufmischen. Sie wollen den ländlichen Raum stärken, Wasserstoff als Energieträger der Zukunft etablieren und einen Impfzwang verhindern.
“Wir Politiker werden immer farbloser”
Er wolle seinen gesunden Menschenverstand beibehalten und sich nicht der political correctness des Mainstreams unterwerfen. Doch so ganz traut er sich das nicht immer. Dann bereut er die eine oder andere spitze Aussage, nimmt sie bei einem autorisierten Interview wieder zurück. Er entschuldigt sich per SMS. In den Medien würde man inzwischen für jede griffige Formulierung angegriffen: „Deshalb werden wir Politiker immer farbloser“.
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Den besorgten Bürger:innen, die mit der Corona-Politik unzufrieden seien, möchte er eine wirkliche, konservative Alternative geben. „Wenn es uns nicht gäbe, dann wäre die AfD viel stärker“, sagt er. „Wir sind die Gralshüter des Konservatismus.“ Erreichen wird er vermutlich genau das Gegenteil. Die „bürgerlichen Stimmen“, die an die Freien Wähler gehen, werden am Ende vielleicht FDP oder Union fehlen.
Nur drei Prozent in Umfragen
Für einen Einzug der Freien Wähler in den Bundestag müsste schon noch einiges passieren. In aktuellen Umfragen liegen sie bei höchstens drei Prozent – selbst in ihrem stärksten Bundesland, Bayern, sind es nur noch sechs Prozent. Das hält Aiwanger aber nicht davon ab, über die mögliche Zukunft zu sprechen.
Der Stadtführerin in Frankfurt sagt er, sie solle sich schonmal in die Geschichte Berlins einlesen, damit sie ihnen dann bald, wenn sie im Bundestag sind, auch eine Tour geben könne. Und natürlich: „Das ist die beste Tour, die ich je genossen habe.“ Den hessischen Parteikolleg:innen sagt er, ihre Spitzenkandidatin, Laura Schulz, komme ja auf jeden Fall mit nach Berlin. Sie würde dann Familienministerin werden oder Finanzministerin.
“Bei uns darf man noch alles sagen”
Ist es Übermut oder sein eigener, oft etwas schräger Humor, der ihn zu solchen Bemerkungen treibt? Humor ist ihm wichtig, weil er das Leben angenehmer mache. Er sagt manchmal würden die Leute seine Witze nicht verstehen und sie als feindlich gegenüber einer bestimmten Gruppe interpretieren. Das sei aber nicht sein Ziel.
„Die Laura, die gehört heute mir“, sagt er zu den Freien Wählern, als sie mal wieder für ein Foto posieren. Die finden das witzig, steigen mit ein, scheinen sich gegenseitig übertreffen zu wollen. „Aber nur bis zum 26. September – danach ist sie wieder meine“, sagt einer. „Ich stelle mich fürs Foto neben meine Freundin“ sagt ein anderer – und meint auch die Spitzenkandidatin Laura Schulz. Die 26-Jährige stört das nicht. Ihren Vater auch nicht. „Es ist wichtig, dass die Leute wissen, bei uns darf man noch alles sagen“, sagt er.
Aiwanger ist die unangefochtene Nummer 1 der Partei
Manche sagen zum Beispiel, dass bei Impfungen kein Druck gemacht werden solle und dass der Klimaschutz keine Priorität habe. Aussagen, die funktionieren, wenn man Stimmen von rechts einsammeln will. Aber dazu gibt es ganz unterschiedliche Ansichten in der Partei. Man kann sie nicht alle in einen Topf werfen. In Hessen sagen sie, sie seien sehr liberal und progressiv, die meisten seien geimpft und würden sich für Klimaschutz einsetzen.
In einer Sache sind sie sich aber einig: der Person Aiwanger als unangefochtene Nummer 1 der Partei. Weil er so herzlich, natürlich und bürgernah sei. Beim Stadtrundgang in Frankfurt spricht er fremde Leute auf der Straße an: „Kommen Sie auch aus Bayern?“ – „Nee, aus Weimer, Thüringen“ – „Achso, weil sie mich so nett angelächelt haben. Haben Sie noch einen schönen Tag.“ Er scherzt mit den Parteikolleg:innen, macht Komplimente und Selfies.
“Er will eine Kopie der CSU sein”
Bei Aiwangers Koalitionspartner in Bayern, der CSU, hält sich die Begeisterung über den FW-Chef in Grenzen. “Aiwanger betreibt mit seinem Engagement die Teilung der bürgerlichen Mitte”, sagt Max Straubinger (CSU), der für den Wahlkreis Rottal- Inn im Bundestag sitzt. “Im Prinzip will er als eigenständige Person eine Kopie der CSU sein”.
Aiwangers Stil, sein Selbstbewusstsein, die manchmal kauzige Art – das sei alles echt, keine Show sagt Straubinger. Der CSU-Mann sagt das mit Anerkennung. Immerhin habe das alles Aiwanger ja weit gebracht, bis in die bayerische Landesregierung. Doch reicht das für mehr?
Geld für die “Wahlkampfschatulle”
Dass er sich trotz utopischer Fünf-Prozent-Hürde nicht als Direktkandidat habe aufstellen lassen, um ja nicht als Einzelkämpfer im Bundestag sitzen zu müssen, zeige, dass Aiwanger es eher auf Geld für die “Wahlkampfschatulle” abgesehen habe, sagt Straubinger. „Die Spendengelder und die Wahlkampfkostenerstattung.”
Aiwanger sagt, sie hätten doch nichts zu verlieren bei der Wahl. Sie könnten nur gewinnen. Ein erhoffter Nebeneffekt: Spätestens bei den nächsten Landtagswahlen würden sie dann besser abschneiden. Sein Aufenthalt in Frankfurt und weiteren deutschen Städten ist eine Reise in die erhoffte, bundespolitische Zukunft. Er ist schon so bekannt, dass ihn die Menschen auf der Straße erkennen. Aber als er in der Altstadt an einem Paar vorbeiläuft, sagt der junge Mann zu seiner Freundin: “Weißte wer das ist? Der Chef der Freien Wähler aus Bayern. Der hat sich wohl hier verlaufen.“