FOCUS online: Herr Waigel, warum fällt es der Politik so schwer, unpopuläre Entscheidungen zu treffen, wenn es um die Sozialsysteme geht?
Theo Waigel: Es war nie einfach, im Sozialbereich unpopuläre Maßnahmen zu treffen. Als 1982 die Koalition zwischen CDU, CSU und FDP 1982 startete, mussten wir den Haushalt sanieren. Also haben wir als eine der Maßnahmen die Rentenerhöhung von etwa vier Prozent um ein halbes Jahr verschoben. Das war schwierig zu vermitteln, aber wir wurden dennoch wiedergewählt.
Meinen Sie, dass es heutzutage schwerer ist, unpopuläre Entscheidungen zu treffen? Oder herrscht in der Politik einfach ein anderer Zeitgeist?
Waigel: Ich glaube, dass in den 1970er und 1980er Jahren die Politiker mutiger waren, unpopuläre Maßnahmen zu treffen. Die Wiedervereinigung in den 1990er Jahren mit ihren Kosten gehört dazu, ebenso die Einführung einer gemeinsamen europäischen Währung. Wenn es damals ein Referendum gegeben hätte in Deutschland, bin ich nicht sicher, ob wir das gewonnen hätten. Aber es war richtig und notwendig. Heute wird das niemand mehr bestreiten.
Nun, manche bestreiten das, vor allem beim Euro. Zu viele Staaten mit unterschiedlicher Wirtschaftskraft in einem Topf, so die Kritik. Die einen brauchen niedrige Zinsen, weil sie es sich sonst nicht mehr leisten können, die anderen könnten noch höhere vertragen, damit die Inflation nicht aus dem Ruder läuft. Deshalb sei der Euro in seiner jetzigen Form nicht überlebensfähig.
Waigel: Ihr und mein Begräbnis wird sicher noch in Euro bezahlt! Wir hatten 20 Jahre Vorbereitungszeit, und die elf Länder, die damals dabei waren, haben die Europäische Währungsunion nicht gefährdet. Das Problem begann zwei Jahre später, als Griechenland völlig zu Unrecht aufgenommen wurde. Das hätte nie passieren dürfen, weil die Zahlen gefälscht waren und leider von den europäischen Institutionen nicht ausreichend kontrolliert wurden. Das war der Fehler. Aber das ist nicht in meiner Zeit passiert, das ist mir sehr wichtig.
Der Fehler mündete in der Finanzkrise.
Waigel: Die Finanzkrise ist in den USA durch die Immobilienblase entstanden. Von den fünf europäischen Ländern, die Hilfsprogramme erhielten, haben sich alle fünf so gut geschlagen, dass sie heute wieder ganz normal am Finanzmarkt agieren. Und was die implizite Staatsverschuldung dieser Länder angeht, also wenn man alles berücksichtigt, was an Kosten und Belastungen auf die nächsten Generationen zukommt, dann steht Griechenland heute besser da als Deutschland. Irland, Spanien und Portugal auch. Italien ist auf unserem Niveau. Wenn sie diese Politik durchhalten, dann stehen sie in 20 Jahren besser da als wir.
Ohne den Euro hätten wir mehr Probleme?
Waigel: Ja. Nur eine gemeinsame europäische Währung kann uns einigermaßen im Spiel halten. Stellen Sie sich vor, wir hätten damals 27 verschiedene Währungen in Europa gehabt, was hätte es da an Abwertungen, Aufwertungen und Protektionen gegeben. Und es gibt noch einen anderen Punkt.
Wir hören zu.
Waigel: Der Dollar dominiert nicht mehr alles. Und wenn der chinesische Renminbi nicht mehr nur eine regionale Währung sein wird, sondern zur Weltwährung aufsteigt, und das wird er, dann brauchen wir auch einen starken Euro.
Die Schweiz hat ja auch eine starke Währung und keinen Euro.
Waigel: Was wäre mit der D-Mark? Wir hätten in Deutschland eine ähnliche Aufwertung wie in der Schweiz, und Sie wissen, mit welchen Summen die Schweizer Notenbank versucht, eine weitere Aufwertung zu verhindern. Sie haben über 900 Milliarden Schweizer Franken gedruckt, um eine weitere Aufwertung zu verhindern. 900 Milliarden! Und jetzt stellen Sie sich vor, wir würden zehnmal so viel drucken wie die Schweiz. Wir wären die Feinde aller anderen Länder. Insofern hat sich die Währung bewährt, und das sage ich gegen alle Kritiker.
Sie sagten damals, der Euro müsse so stark sein wie die D-Mark zuvor. Wie sehen Sie die Situation heute? Die Inflation ist deutlich gestiegen, die Kaufkraft des Euro sinkt.
Waigel: Auch wenn die EZB zu spät reagiert hat, agiert sie im Moment angemessen. Für die Inflation kann sie nichts. Die EZB hat lange Zeit eine stabilere Geldpolitik gemacht als die Bundesbank. Und man muss eines sehen: Auch zu D-Mark-Zeiten waren die Realzinsen lange Zeit negativ. Das heißt, die Zinsen waren niedriger als die Inflation. Ich glaube, dass viele Leute gar nicht verstehen wollen, dass die Inflationsgefahren nicht vom Euro kommen. Sonst hätte die Deutsche Bundesbank in den Jahren 1990 und 1991 die Zinsen nicht auf sieben bis acht Prozent anheben müssen.
Aber wenn die EZB die Zinsen weiter erhöht, würgt sie die Konjunktur ab und es kommt zur Rezession.
Waigel: Die EZB ist auf dem richtigen Weg und muss ihn weitergehen. Auch auf die Gefahr hin, dass die Konjunktur leidet und eine Rezession droht. Das muss man in Kauf nehmen. Vor einigen Tagen habe ich alte Bücher von Alan Greenspan und Paul Volcker gelesen…
…zwei ehemalige Notenbankchefs in den USA.
Waigel: Und gerade bei Volcker denke ich immer daran, wie er in den 80er-Jahren die enorme Inflation in Amerika bekämpft hat. Sehr radikal, unpopulär, aber erfolgreich. Und im Nachhinein muss ihm jeder Recht geben, dass er mit seiner Geldpolitik die fiskalpolitischen Fehler von Ronald Reagan ein Stück weit korrigiert hat.
Aber was würde passieren, wenn die EZB jetzt ebenso hart vorgeht und die Zinsen auf einmal 20 Prozent betragen.
Waigel: Das hat sie nicht nötig. Die Preissteigerungen sind im Moment nicht so schlimm wie damals in Amerika. Es geht auch nicht so sehr darum, ob die Erhöhungen jetzt 25 oder 50 Basispunkte betragen. Wichtig ist, dass in der Wirtschaft und am Geldmarkt der Weg erkannt wird und das Vertrauen entsteht: „Die tun alles für die Geldwertstabilität“.
Deshalb ist der Kurs der EZB für Sie alternativlos?
Waigel: Die EZB betreibt keine Politik des leichten Geldes. Das ist wichtig für das gesamte Marktumfeld. Eine Währung lebt von Vertrauen. Und gerade, weil wir keinen optimalen Währungsraum haben, leben wir auch vom Vertrauen in die Vertragsgemeinschaft. Und dazu gehören Regeln. Insofern muss man sich gut überlegen, wie jetzt eine Reform des Stabilitätspaktes aussieht.
Aber die Märkte spekulieren ja schon darauf, dass die Zinsen nicht mehr weiter steigen bzw. bald wieder gesenkt werden. Ist diese Geldwertstabilität, die für Sie Priorität gegenüber dem Wirtschaftswachstum hat, nicht ein Widerspruch?
Waigel: Aus meiner langjährigen politischen Erfahrung kann ich Ihnen sagen, dass der Markt nicht immer Recht hat. Ich bin für die soziale Marktwirtschaft, das ist ganz klar. Aber manchmal muss man den Märkten auch Zügel anlegen. Und die EZB hat in ihrem Vertrag nicht den Auftrag, die Wirtschaft zu stützen, sondern für Stabilität zu sorgen. Das ist ihr oberstes Ziel. Und daran muss sie festhalten.
Wenn es um Stabilität geht, dann wird in der Politik aktuell mit Förderprogrammen und Vorgaben gearbeitet. Das lässt den Bundes-Haushalt immer weiter anschwellen. Brauchen wir diese Giga-Haushalte oder werden die Politiker einfach gieriger?
Waigel: Sie beschreiben das Wagner’sche Gesetz. Es besagt, dass mit dem Wachstum der Wirtschaft und dem kulturellen Fortschritt auch der Anteil der Staatstätigkeit an der Wirtschaftsleistung steigt. Mitte der 90er Jahre haben wir dieses Gesetz gebrochen und Haushalte vorgelegt, die niedriger waren als ihre Vorgänger.
Aktuell liegt Wagner aber mehr als richtig.
Waigel: Angesichts des enormen Anstiegs in den letzten Jahren und der Sondervermögen, die außerhalb des Haushalts liegen, aber irgendwann zurückgezahlt werden müssen, halte ich es für notwendig, festzustellen: Haushalte können nicht unbegrenzt wachsen! Wir leben in einer Phase asymmetrischer Finanzpolitik, in der Konsolidierung konfrontiert wird mit zusätzlichen Ausgaben. Es ist richtig, Wachstum zu generieren und dann zu verteilen. Die Hälfte des Wachstums sollte in die Konsolidierung der Haushalte gehen, um sie wieder zukunftsfähig zu machen. Was ich im Moment in der Politik vermisse, ist eine Exit-Strategie.
Es geht um Sparen und Tilgung, wie auch der aktuelle Finanzminister Lindner betont.
Waigel: Wir haben in den 90er Jahren den Erblastentilgungsfonds etabliert, um die deutsche Einheit, Treuhand und Wiederaufbau in Ostdeutschland zu finanzieren. Das waren über 300 Milliarden D-Mark. Aber wir haben die Schulden in den Bundeshaushalt überführt und dann alles getan, um sie innerhalb von 15 bis 20 Jahren zu tilgen. Das heißt, Konsolidierung muss ein gleichberechtigtes Ziel der Finanzpolitik sein.
Also im Sozialsystem, um auch noch einmal an den Beginn des Gesprächs zurückzukommen, ist von einer Konsolidierung nichts zu sehen. Zudem beschleicht einen das Gefühl, dass die Rente nicht so stabil ist, wie die Deutschen früher dachten. Dauernd geht es um das Rentenniveau und den Rentenbeitrag.
Waigel: Wenn man am Äquivalenzprinzip festhält, d.h. dass Leistung einer Gegenleistung entsprechen muss, wird nicht jeder von seiner Rente allein leben können. Dann muss die betriebliche Altersversorgung und die private Vorsorge hinzukommen. Und wenn ich mir anschaue, dass der Bund schon heute im Haushalt rund 120 Milliarden Euro pro Jahr für die Rente zur Verfügung stellt, dann wird es unumgänglich sein, die Lebensarbeitszeit zu verlängern.
Nicht gerade das, was die Bürgerinnen und Bürger hören wollen.
Waigel: Ich weiß, das ist unpopulär und vor Wahlen traut sich kaum jemand, das zu sagen. Aber die Demografie und die Mathematik zwingen uns dazu. Der letzte, der das überzeugend gesagt hat, war vor 15 Jahren Franz Müntefering, ein sozialdemokratischer Minister. Er hat damals die Erhöhung des Renteneintrittsalters auf 65 Jahre durchgesetzt. Aber danach sind wir wieder in die falsche Richtung gelaufen.
Sie könnten gefühlt mit 84 Jahren noch arbeiten. Aber es gibt Berufe, da ist es nicht möglich, mit 70 noch im Berufsleben zu stehen.
Waigel: Natürlich. Ich habe das Glück, Tätigkeiten ausüben zu können, die mir das körperlich und geistig ermöglichen. Das kann nicht jeder. Aber wenn wir alle zehn Jahre älter werden als unsere Eltern, dann muss ich mir überlegen: Entweder erhöhe ich die Beiträge sehr stark, was der jungen Generation nicht zuzumuten ist, oder ich kürze die Renten.
Auch schwierig.
Waigel: Genau, also bleibt nur die Verlängerung der Lebensarbeitszeit. Hinzu kommt eine höhere Erwerbsbeteiligung der Frauen und eine gezielte Integration ausländischer Arbeitskräfte. Diese drei Punkte sind unabdingbar, um soziale Sicherheit und Wachstum dauerhaft zu gewährleisten.
Ist jetzt langsam die Zeit reif, dass auch Beamte ins Rentensystem einzahlen müssen?
Waigel: Das bringt nicht viel. Rürup hat das neulich in einem großen Aufsatz durchgerechnet. Denn dann müssten sie erst einmal das einzahlen, was bisher sozusagen der Staat in die Rentenkasse gesteckt hat. Und dann ist es ähnlich, wie wenn Handwerker oder andere in die gesetzliche Rentenversicherung gehen müssen. Die haben dann entsprechende Ansprüche. Die Berechnungen, die da angestellt werden, bringen keine wirkliche Entlastung der Rentenkasse.
Statt dieser etwas unangenehmen Entscheidungen setzt man nun darauf, dass Rentner oder Menschen im Rentenalter freiwillig weiterarbeiten. Halten Sie das für den richtigen Weg?
Waigel: Ich halte das in der Tat für den richtigen Weg. Wir werden zu einem System kommen müssen, in dem es flexible Regelungen gibt. Wenn jemand früher aufhören will oder muss, dann nimmt er auch einen gewissen Rentenabschlag in Kauf. Wenn jemand länger arbeitet, hat er einen Vorteil. Ich glaube, wir brauchen ein variables System, aber insgesamt mit einer Verlängerung der Lebensarbeitszeit.
Zum Schluss noch eine persönliche Frage: Wenn man Bundeskanzler Scholz zuhört, dann sagt er, er lege sein Geld nicht an, sondern nur aufs Sparbuch.
Waigel: Das reicht für eine tragfähige Finanzpolitik nicht aus.
Sind Politiker heutzutage ein bisschen lebensfremd? Scholz investiert nicht, obwohl das angesichts der Inflation ratsam wäre, er tankt nicht und kennt nicht einmal die Preise. Hat man als Politiker so viel zu tun?
Waigel: Ich war immer darauf vorbereitet, sagen zu können: Was kostet das tägliche Leben. Ich glaube, das gehört zu den Pflichten eines Politikers. Ich habe auch immer selbst getankt und weiß auch heute noch, was das kostet. Politiker sollten auch wissen, was ein Liter Milch oder ein Ei kostet. Da sollte man sich auf dem Laufenden halten, um zu wissen, wie es der normalen Bevölkerung geht. Gerade beim Einkauf von Lebensmitteln und Dingen des täglichen Bedarfs.
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