Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) handelte mit ihren europäischen Amtskollegen am Donnerstag einen Kompromiss in der Flüchtlingspolitik aus. Mit BILD am SONNTAG sprach sie am Tag danach über die geplante Reform des Asyl-Systems und die Sorgen der Bürger.
BILD am SONNTAG: „Frau Faeser, die EU hat sich darauf geeinigt, das Asylrecht zu verschärfen. Wird die Zahl der Flüchtlinge, die nach Deutschland kommen, damit sinken?“
Nancy Faeser: „Dies ist ein nie zuvor erreichter Kompromiss. Wir haben eine tiefe Spaltung Europas überwunden. Wir kontrollieren die Außengrenzen, damit die Grenzen innerhalb Europas offen bleiben können. Dabei ist klar: Wir schützen weiterhin die Menschen, die aus furchtbaren Kriegen, vor Folter und Mord zu uns fliehen. Aber diese Verantwortung verteilt sich künftig auf mehr Schultern. Das wird auch zu einer Entlastung Deutschlands führen.“
Jetzt muss erst mal das EU-Parlament darüber debattieren und abstimmen. Die neue Regelung wird frühestens ab 2024 gelten. Ist es dann aufgrund der steigenden Migrationszahlen nicht viel zu spät?
Faeser: „Zu einer europäischen Lösung gab es keine Alternative. Nicht zu handeln würde bedeuten, das Elend an den Außengrenzen und das Sterben auf dem Mittelmeer weiter zuzulassen. Bis die neuen Regeln greifen, handeln wir zusätzlich national. Wir haben die Maßnahmen im Grenzschutz deutlich verstärkt, um unerlaubte Einreisen zu unterbinden. Und wir machen Druck: Wir wollen einen Abschluss des gemeinsamen EU-Asylsystems vor der Europawahl im nächsten Jahr.“
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Werden viele Flüchtlinge die verbleibende Zeit nutzen und noch schnell nach Deutschland einreisen?
Faeser: „Die große Fluchtbewegung des letzten Jahres kam durch Putins mörderischen Krieg gegen die Ukraine. Die Asylzahlen aus anderen Staaten sind auch hoch, liegen aber wieder unter dem Stand von Ende letzten Jahres. Viele unerlaubte Einreisen erkennen wir aktuell an der Grenze zu Polen: Dort stellt die Bundespolizei oft Flüchtlinge mit russischen Visa fest. Wir haben schon einmal erlebt, wie der Kreml Menschen als Machtmittel missbrauchen und über Belarus in die EU schicken wollte. Aber klar ist: Europa lässt sich nicht erpressen.“
Brauchen wir Grenzkontrollen, bis das neue System greift?
Faeser: „Ich will das Herzstück der Europäischen Union – offene Grenzen im Inneren – verteidigen. Es würde uns um Jahrzehnte zurückwerfen, Schlagbäume wieder hochzuziehen. Unserer Wirtschaft, den vielen Pendlern und Familien dies- und jenseits der Grenzen zu unseren Nachbarstaaten würde das massiv schaden.“
Teile der Grünen und Menschenrechtsorganisationen kritisieren, dass auch Familien unter haftähnlichen Bedingungen an den Außengrenzen der EU festgehalten werden können. Teilen Sie die Bedenken?
Faeser: „Wir haben uns auf rechtsstaatliche Verfahren unter Wahrung der Menschenrechte geeinigt. Diese Verfahren gibt es nur für Menschen mit einer geringen Aussicht auf Schutz in der EU, nicht für Geflüchtete vor Krieg und Terror.“
Sollte das EU-Parlament hier noch einmal nachbessern?
Faeser: „Ja, wir wollen jetzt zusammen mit dem Europäischen Parlament in den weiteren Verhandlungen dafür sorgen, dass Familien mit Kindern nicht ihr Asylverfahren an den Außengrenzen durchlaufen müssen, sondern gleich in die EU einreisen können.“
Ihr Koalitionspartner, die Grünen, sind trotzdem sauer.
Faeser: „Innerhalb der Bundesregierung haben wir einen Kurs verabredet und Kurs gehalten. Deutschland ist das Land, das sich am deutlichsten für Menschenrechte starkgemacht hat. Wir haben sehr viel erreicht!“
Grünen-Chefin Ricarda Lang kritisiert Ihren Kompromiss.
Faeser: „Und ihr Co-Vorsitzender Omid Nouripour unterstützt meine Linie. Das freut mich.“
Kritik gibt es auch aus Ungarn, das keine Flüchtlinge aufnehmen will und künftig dafür Strafen bezahlen soll. Glauben Sie wirklich, dass es dazu kommt?
Faeser: „Es ist ja nichts Neues, dass Ungarn europäische Werte mit Füßen tritt. Aber die EU beschließt Gesetze, an die sich alle halten müssen. Länder, die sich dann weigern, ihren Anteil an Geflüchteten aufzunehmen, werden zahlen müssen. Darüber herrscht große Einigkeit.“
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Fast ein Jahrzehnt lang ist in der Migrations- und Zuwanderungspolitik wenig passiert. Hat das die AfD so stark gemacht?
Faeser: „Jedenfalls hat sie auf dem Rücken der Schwächsten Stimmung gemacht. Das Programm der AfD ist schlicht: Ressentiments und Demokratieverachtung. Praktische Lösungen hat diese Partei nicht anzubieten. Dass Europa lange handlungsunfähig wirkte, hat nicht nur der AfD, sondern Rechtspopulisten in vielen Ländern genützt. Deshalb bin ich überzeugt, dass wir den Rechten mit gemeinsamen europäischen Lösungen Wind aus den Segeln nehmen.“
Die AfD liegt in Umfragen bei 19 Prozent. Ein Denkzettel für die Ampel?
Faeser: „Streit in der Regierung hilft zumindest nicht.“
Die Aktivisten der „Letzten Generation“ verschärfen ihre Proteste, stürmen Flughäfen und zerstören Privatflugzeuge. Muss der Verfassungsschutz die Gruppierung beobachten?
Faeser: „Wir akzeptieren nicht, dass Aktivisten die Rechte anderer verletzen. Dem Klimaschutz nutzt das überhaupt nichts, im Gegenteil: Die Aktivisten schaden der Akzeptanz massiv. Dass die Polizei einschreitet und Aktivisten vor Gericht landen, sehen wir vielerorts. Das ist richtig. Zwischen Straftätern und Extremisten gibt es aber Unterschiede.“
Wie radikal und gefährlich ist die „Letzte Generation“?
Faeser: „Die Aktivisten begehen Straftaten. Das Bundeskriminalamt hat zum ersten Mal ein bundesweites Lagebild erstellt. 580 Straftaten sind der „Letzten Generation“ seit Anfang 2022 zuzuordnen, 740 Personen sind polizeilich in Erscheinung getreten. Es geht vor allem um Nötigungen und Sachbeschädigungen.“
Nach Übergriffen auf Bahnhöfen und tödlichen Messer-Attacken in Zügen haben Sie härtere Maßnahmen angekündigt. Wie sehen diese jetzt genau aus?
Faeser: „Ich werde nächste Woche bei der Innenministerkonferenz ein generelles Messerverbot in Zügen und im gesamten öffentlichen Nahverkehr vorschlagen. Ich bin für ein Verbot, damit strikter kontrolliert und schlimme Gewalttaten verhindert werden können.“
Wer soll das Messerverbot kontrollieren und welche Strafen drohen?
Faeser: „Die Bundespolizei kann die stichpunktartigen Kontrollen an Bahnhöfen erhöhen, genauso sollten die Länder mit ihren Polizeien handeln. Wer gegen das Waffenrecht verstößt, begeht eine Straftat, die streng geahndet werden kann.“
Dieser Artikel stammt aus BILD am SONNTAG. Das ePaper der gesamten Ausgabe gibt es hier.