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Erstellt: 04.07.2023, 05:05 Uhr

Von: Max Müller

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Warum eskalieren Demonstrationen in Frankreich – und in Deutschland nicht?Bei den Kundgebungen am Donnerstag sind 12.000 Polizisten und Gendarmen im Einsatz. © Bob Edme/dpa

Brennende Mülltonnen und Tränengas: Es sind Szenen, die in Deutschland kaum vorstellbar – und in Frankreich seit Wochen Normalität sind. Ein Experte erklärt, woran das liegt.

Frankreich kommt nicht zur Ruhe. Seit Wochen protestieren Hunderttausende Menschen in Paris und anderen Städten. Der Auslöser ist die Rentenreform von Präsident Emmanuel Macron. Er will das Renteneintrittsalter schrittweise von 62 auf 64 Jahre anheben. Es ist das größte und gleichzeitig heikelste Vorhaben seiner zweiten Amtszeit. Bis Montag hofften Demonstranten, dass Macron durch ein Misstrauensvotum gestoppt wird. Vergeblich. In der Folge eskalierte die Gewalt.

An diesem Donnerstag geht es weiter. Es ist ein weiterer Generalstreik geplant, der neunte seit Ende Januar. 800.000 Menschen werden erwartet. In französischen Medien wurden Karten mit den 240 angekündigten Demonstrationen und Kundgebungen gezeigt. Die Auswirkungen lassen sich im gesamten Land beobachten: Es bilden sich lange Schlangen vor der Tankstellen, der Bahnverkehr lahmt und der Müll türmt sich. Frankreich probt den Aufstand – und das nicht zum ersten Mal.

Das ist ein wichtiger Grund, warum die Franzosen, Gewalt eingeschlossen, heftig aufbegehren, sagt Politikwissenschaftler Johannes Maria Becker. Denn: „In Frankreich gibt es eine Protestkultur, die auf Siege zurückschauen kann. Man feiert dort Revolutionen. Der Nationalfeiertag ist der 14. Juli.“ Becker hat das Zentrum für Konfliktforschung an der Universität Marburg mit aufgebaut. Einer seiner Forschungsschwerpunkte ist Frankreich. Er hat drei Jahre in Paris gearbeitet und hat seit 45 Jahren einen zweiten Wohnsitz in Frankreich.

Proteste in Frankreich: Gewerkschaften spielen wichtige Rolle

Dass die Proteste nicht zu kontrollieren sind und sehr überraschend auftreten, überrascht Becker nicht: „In Frankreich sind Proteste weniger vorhersehbar als bei uns. Das liegt unter anderem an den Gewerkschaften, die viel radikaler agieren. Es gibt dort politische Richtungsgewerkschaften, zum Beispiel eine sozialdemokratisch orientierte, eine kommunistisch orientierte und sogar eine zuweilen trotzkistisch maoistisch agierende Gewerkschaft. In Deutschland hingegen haben wir eine sozialdemokratisch orientierte Einheitsgewerkschaft.“

Neben der institutionellen Erklärung gibt es auch eine kulturelle Begründung: die Volksseele. „Das französische Volk hat – neben der Kultivierung der obsiegenden Revolutionen – ein kollektives Bewusstsein für Unrecht. Es läuft etwas schief? Dann macht man eher die zentrale Obrigkeit verantwortlich und geht auf die Straße – und zwar alle, nicht nur diejenigen, die direkt betroffen sind. Deutsche suchen die Schuld eher bei sich, sie zweifeln die Makrostrukturen nicht an.“

Streik-Vergleich: Pro Jahr 123 Tage in Frankreich, sieben Tage in Deutschland

Zahlen unterstreichen die Streiklust der Franzosen beziehungsweise die Streikfaulheit der Deutschen – je nachdem, wie man es liest. Auf 1.000 französische Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer kommen im Schnitt 123 Streiktage pro Jahr. In Deutschland sind es sieben Tage. Das hat das Institut der deutschen Wirtschaft (IW) in Köln in einer Untersuchung für die Jahre 2007 bis 2016 herausgefunden.

Auch Deutschland macht dieser Tage mannigfaltige Erfahrungen mit Streiks. Verdi und der Beamtenbund dbb fordern 10,5 Prozent mehr Einkommen, mindestens aber 500 Euro mehr im Monat. Die Arbeitgeber bieten bisher aber nur 5 Prozent in zwei Schritten und Einmalzahlungen in Höhe von insgesamt 2500 Euro – für die Gewerkschaften „eine Zumutung“, wie sie sagen. Dennoch gibt es in der Form der Proteste große Unterschiede zum Nachbarland. Frankreich-Experte Becker erzählt eine Geschichte, die ihm konkret vor Augen führte, dass es in Deutschland anders läuft. „Als 2005 Hartz IV eingeführt wurde, sollte es hier in Marburg eine Demonstration geben. Man rechnete damit, dass von den etwa 500 erwerbslosen Lehrern in der Region viele kommen würden, denn sie mussten durch die Reform massive Verluste hinnehmen. Letztlich sind sechs gekommen.“

Historische Gründe für andere Streikkultur in Frankreich

Eine Zahl, die in Frankreich undenkbar wäre, sagt Becker. Die Streiklust hänge auch mit einem grundlegenden Misstrauen in den Staat zusammen. „Die Franzosen sagen: Wenn Macron meint, er müsse mehr Geld einnehmen, dann soll er die Superreichen stärker besteuern oder Steuerhinterziehung effektiver bekämpfen. Mit dieser Einstellung gilt man in Deutschland als Neider“, so Becker.

Dass die Streikkultur in Frankreich anders ist, hat auch historische Gründe. Erst wurde das Streikrecht eingeführt, danach kamen die Gewerkschaften. Protestieren kommt vor Verhandeln – das hat in Frankreich eine lange Tradition. Seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs steht das Streikrecht sogar in der Präambel der Verfassung. Grundsätzlich darf in Frankreich jeder streiken – auch Beamte. In Deutschland ist Staatsbediensteten dieses Recht untersagt.

Was als Streik gilt, ist ebenfalls unterschiedlich definiert. Wenn in Frankreich mindestens zwei Beschäftigte ihre Arbeit niederlegen, gilt das als Streik. In Deutschland dürfen nur Gewerkschaften zum Streik aufrufen. Trotzdem gibt es eine Gemeinsamkeit: Streiks sind nur zulässig, wenn es um Forderungen geht, die sich im Rahmen des Tarifvertrags regeln lassen. Es muss also beispielsweise um das Gehalt, die Arbeitsbedingungen oder den Kündigungsschutz gehen.

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