Wissenschaftler haben untersucht, wie oft im Parlament seit 1949 die Rede von der Zukunft war. Lange hat das stetig zugenommen, seit Mitte der Nuller Jahre geht es zurück.
Politikerinnen und Politiker denken und handeln zu kurzfristig, so lautet ein gängiges Urteil. Auch Anselm Küsters und Jochen Andritzky finden, dass es in der Politik längerfristige Perspektiven geben muss. “Nur wenn Zukunft im politischen Diskurs langfristig imaginiert wird, kann man sie aktiv gestalten,” schreiben die Wissenschaftler vom Freiburg-Berliner Centrum für Europäische Politik und von der Frankfurter Zukunft-Fabrik 2050 in einer kurzen gemeinsamen Studie.
Küsters und Andritzky brechen das Thema herunter auf die Frage: “Wie zukunftsorientiert ist der Bundestag?”. Dafür haben sie computerlinguistisch die Reden im Parlament von 1949 bis 2020 analysiert. Es wurde gezählt, wie oft 50 Schlüsselwörter wie “Entwicklung”, “Fortschritt” oder “Modernisierung” von Abgeordneten und Regierungsmitgliedern verwendet wurden.
Ein interessantes aber nicht überraschendes Ergebnis: Regierungserklärungen sind besonders zukunftsorientiert. Als Beispiele führen Küsters und Andritzky die Erklärungen von Helmut Kohl nach seiner Wiederwahl 1987 und die von Gerhard Schröder 1998 als Kanzler der neuen rot-grünen Koalition an. Eine Regierungserklärung ist naturgemäß dem Blick in die Zukunft gewidmet.
Allerdings gerät die Zukunft beim konkreten Umsetzen und in der gegenwartsgetriebenen Politik dann immer wieder aus dem Blick. Solche kurzfristigen Schwankungen zeigt auch die Auswertung von Küsters und Andritzky: Die Kurve der Häufigkeit der Zukunftswörter geht immer wieder hoch und runter.
Allerdings gibt es einen deutlichen langfristigen Trend. “Von 1950 bis Mitte der 1960er Jahre”, schreiben die Autoren, “gibt es wenige Bezüge zu Zukunftsthemen, möglicherweise aufgrund der drängenden Herausforderungen in der Nachkriegszeit”. Eine zusätzliche qualitative Analyse zeige, dass sich die frühen Bundestagsreden oft mit Problemen wie Nahrungsmittelunsicherheit oder Infrastrukturproblemen beschäftigten.
Das ändert sich dann: “Im Gleichklang mit dem ‚Wirtschaftswunder‘ und dem allgemeinen Aufschwung in der Bundesrepublik steigt die Zukunftsorientierung ab Mitte der 1960er Jahre auch gemessen am Anteil des Zukunftsvokabulars stark an.” Und sie setzt sich fort: “Zu Anfang der 1990er Jahre steigt die Zukunftsorientierung deutlich im Kontext der Diskussionen über die Zukunft des wiedervereinigten Deutschlands und über die sich abzeichnenden Arbeitsmarktprobleme.” Ihren Höhepunkt erreicht sie in der Reformperiode nach Verabschiedung der Agenda 2010.
Wie anzunehmen war, zeigt die Untersuchung – mit der Methode der sogenannten Sentiment-Analyse – auch, dass die Parteien unterschiedlich auf die Zukunft sehen. Abgeordnete von SPD und CDU/CSU benutzen, vor allem wenn ihre Parteien an der Regierung sind, ein positiveres Vokabular, ebenso die der FDP. “Dagegen ist die Tonalität der Bundestagsreden von grünen Abgeordneten negativer, da ihre Reden oftmals vor zukünftigen Problemen durch Umweltzerstörung warnen,” schreiben Küsters und Andritzky. Insgesamt herrscht eine negativere Tonalität in Reden von Mitgliedern der jeweiligen Opposition. Wenn sie überhaupt über Zukunft reden: Seit 2015 fällt die Verwendung von Zukunftsvokabular bei Linke und AfD rapide ab.
Generell sinkt die Zukunftsorientierung schon seit Mitte der Nuller Jahre. Noch eine dritte Analysemethode wurde für die Studie verwendet, das Structural Topic Modeling, bei dem durch eine Künstliche Intelligenz Themen in Texten identifiziert werden. Eines dieser Topics versehen die Autoren mit dem Schlagwort “Rahmenbedingungen”. Es geht in entsprechenden Reden darum, “Deutschland durch geeignete Rahmenbedingungen gut in die Zukunft zu bringen”. Ein anderes Topic ist die “Bewältigung von Herausforderungen” im Zusammenhang mit aktuellen Problemen.
Auffällig ist nun, dass diese Bewältigung “deutliche Aufmerksamkeitsspitzen in den Jahren 2000 und 2020” zeigt. “Es liegt die Vermutung nahe, dass kurzfristige Herausforderungen den Zukunftsdiskurs über langfristige Themen wie Rahmenbedingungen und Bildung teilweise verdrängen”, schreiben Küsters und Andritzky. Dieser Befund dürfte mit dem Ausbruch des Ukrainekriegs wohl auch für das Jahr 2022 gelten.
Die beiden Autoren finden das problematisch: “Ohne eine Berücksichtigung der Zukunft werden folgenreiche Abwägungen aus dem politischen Diskurs und der öffentlichen Meinungsbildung ausgeklammert, was letztlich der Qualität unserer Demokratie schadet,” schreiben sie. Ob das für Zeiten und Jahre der Polykrise gilt, wäre allerdings zu diskutieren. Ohne erfolgreiche kurzfristige Krisenbewältigung kann es einen langfristigen Blick in die Zukunft nicht geben.