Die restriktive Corona-Politik hat das Land in eine psychologische Krise gestürzt. Bei den Jungen gibt es eine Lost Generation, der es immer schwerer fällt, Kontakte zu knüpfen.

Die stille Epidemie nach Covid

Die Kontaktbeschränkungen haben vor allem bei jungen Menschen Spuren hinterlassen.

Maria Magdalena Arrellaga / Bloomberg

Sind die Deutschen einsam? Nervös schauen Wissenschaft und Politik auf immer beunruhigendere Studien. Die Bundesregierung hat Ende letzten Jahres ein Paket mit exakt 111 Massnahmen beschlossen, um der bedauernswerten gesellschaftlichen Gefühlslage Herr zu werden.

Auch von anderswo kommt Hilfe mit wortschöpferischem Anspruch. Es gibt jetzt ein «Kompetenznetz Einsamkeit» und ein «Einsamkeitsbarometer». In Berlin, wo sonst, amtiert eine «Einsamkeitsbeauftragte».

Der Deutsche Ethikrat hat sich jüngst bei einer grossen Tagung mit dem Thema beschäftigt. Am Ende waren sich alle herbeigerufenen Fachleute einig: Wer sich einsam fühlt, sollte vom Staat nicht alleingelassen werden. Schon aus demokratiepolitischem Selbstzweck. Alleinsein befördere neben allen tragisch-persönlichen Folgen die politische Radikalisierung, hiess es auf dem Podium des Ethikrates. Vielleicht müsste das ehrenwerte Gremium an diesem Punkt auch vor radikalisierter Forschung warnen.

Es hängt mit Covid zusammen

Beim Thema Einsamkeit sind die Zahlen allerdings in der Tat erschreckend. Jeder dritte Deutsche im Alter zwischen 18 und 53 Jahren fühlt sich zeitweise einsam. Eine Untersuchung des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung (BiB) hat die Zeitspanne zwischen den Jahren 2005 bis Anfang 2023 erforscht. Dabei wurde festgestellt, dass die Covid-Jahre mit ihren Quarantänebestimmungen und Kontaktverboten das Empfinden der Menschen, allein zu sein, viel nachhaltiger prägen, als man je vermutet hätte.

Vor Covid lag der Anteil der Einsamen stabil zwischen 14 und 17 Prozent. Bei Beginn der Pandemie stieg der Wert auf 41 Prozent an, im Jahr darauf lag er noch einmal 6 Prozent höher. Anfang 2023 fühlten sich immer noch 36 Prozent der Menschen des untersuchten Alterssegments allein.

Aus der Covid-Pandemie ist in Deutschland eine Einsamkeitsepidemie geworden. Die trockene Sprache der Forschung nennt das «Chronifizierung», aber im Leben der Menschen heisst das: Wer existenziell bedrohliches Alleinsein erlebt hat, wird dieses Gefühl so schnell nicht mehr los. Das Vertrauen in die Möglichkeiten der Kommunikation sinkt, das Vertrauen in soziale Bindungen schwindet.

Den privaten Gemeinschaften und der Gesellschaft verlorenzugehen, ist zum grossen Drama nicht nur in den Städten geworden, sondern auch auf dem Land. Das regierungsamtliche «Einsamkeitsbarometer» kann keine signifikanten Unterschiede zwischen diesen Lebensräumen erkennen. Und im deutschen Osten fühlt man sich offenbar genauso allein wie im Westen. Hessen, Nordrhein-Westfalen und Sachsen sind die republikanischen Zonen erhöhter Isolation. Aus diesem Grund hat auch Nordrhein-Westfalen im Juni zu einer grossen «Einsamkeitskonferenz» geladen.

Alleinsein als Chance?

Die Tagung des Deutschen Ethikrates Ende Juni in Berlin war ein moralischer Verzweiflungsakt. Dem Versuch, individuelle Gefühle der Einsamkeit in Statistiken und Prognosen zu giessen, konnte man hier beim Scheitern zusehen.

Der norwegische Philosoph Lars Fredrik Händler Svendsen, der ein populäres Buch mit dem Titel «Philosophie der Einsamkeit» geschrieben hat, versuchte das Alleinsein als Kraftquelle zu nobilitieren und wollte den Leidensdruck als Chance begreifen. Ganz im Gegensatz zum alarmistischen Ulmer Mediziner Manfred Spitzer, der am Podium verkündete, dass Einsamkeit aus gesundheitlicher Sicht der «Killer Nummer eins» sei: «Tödlich, ansteckend und schmerzhaft.»

Bei der Tagung des Ethikrates kam auch der Soziologe Heinz Bude zu Wort, dem das Getue um die Einsamkeit nicht ganz geheuer zu sein schien. Vor zweihundert Jahren sei man genauso einsam gewesen wie heute, behauptete der digital zugeschaltete emeritierte Professor ziemlich freihändig und holte auch noch politisch aus. Bude entwarf ein Schreckensszenario verführbarer einsamer Massen, «die sich zusammenschliessen und dadurch zum Spielball von Demagogen werden», vor allem «im deutschen Osten».

Wenn es um Einsamkeit geht, tappt mancher lustvoll im Dunkel der eigenen Phantasien, aber die Ursache des gegenwärtigen Problems in Deutschland lässt sich einigermassen scharf umreissen. Die Covid-Jahre mit ihrer restriktiven Politik haben das Land in eine psychologische Krise gestürzt. Damit aber nicht genug.

Der NZZ gegenüber will der Siegener Soziologe Claus Wendt auch eine kulturelle Krise sehen. «Der Wohlfahrtsstaat, so wie er in Deutschland organisiert ist, kann einsam machen. In den während der Covid-Zeit weniger restriktiv agierenden nordeuropäischen Ländern gibt es ein hohes Mass an Selbstverantwortung und gleichzeitig auch mehr Solidarität. Das haben wir in Deutschland nicht. In Schweden, Dänemark und den Niederlanden ist die Einsamkeit ein viel kleineres Problem.»

Die Jungen sind die Einsamsten

In den Ländern im Norden ging für die meisten Schüler der Unterricht weiter, die Sportvereine haben ihre Arbeit nicht unterbrochen. So konnte man vermeiden, was sich in Deutschland zur grossen Krise auswächst. Die einsamsten Menschen im Land sind heute nicht mehr die Alten und Kranken, sondern die ganz Jungen.

Die Gruppe zwischen 18 und 29 Jahren ist während Covid in ein tiefes emotionales Loch gefallen und hat sich auch danach weniger gut erholt. Man habe, sagt Claus Wendt, «viel empirische Evidenz, dass das Problem weiter zunimmt». In den entscheidenden Entwicklungsjahren soziale Erfahrungen oder Selbsterfahrungen nicht gemacht zu haben, wird sich auch längerfristig als fatal erweisen.

In Deutschland gibt es eine durch die Covid-Jahre noch mehr ins Abseits gedrängte Lost Generation, der es immer schwerer fällt, Kontakte zu knüpfen. Die sich zurückzieht und in den sozialen Netzwerken eine simulierte Kommunikation erlebt, die erst recht einsam macht.

Das deutsche Problem relativiert sich auch dadurch nicht, dass es weltweit Schauplätze gibt, an denen die Lage noch besorgniserregender ist. Die Bertelsmann-Stiftung hat kürzlich unter dem Titel «Jung und einsam» ein Dossier mit einem internationalen Vergleich zusammengestellt.

Dramatisch ist die Lage in Japan, wo Suizid mittlerweile die häufigste Todesursache bei Jugendlichen ist, und in Südkorea. 5 Prozent der 19- bis 34-Jährigen haben sich vollkommen von der sozialen Umwelt losgesagt, verlassen das Zimmer nicht mehr und gehen keiner Arbeit nach. Die Probleme, die es anderswo gibt, liegen wie Schatten über den deutschen Entwicklungen. Claus Wendt: «Wir müssen aufpassen, dass uns nicht ganze Teile der Gesellschaft abhandenkommen.»

Einsamkeit ist ein bedrückend vielschichtiges Gebilde. Wenn sich das Ich nicht mehr richtig mit der Welt zu verrechnen weiss, können Wirklichkeitsverzerrungen entstehen, die den Weg zurück in die Gemeinschaft erschweren. Was die neuen Studien auch zeigen: Wer einsam ist, sieht in der Gesellschaft eher ein konfliktreiches Gebilde als jemand, der sozial gut eingebunden ist. Das Bedürfnis, sich immer weiter zurückzuziehen, wächst. Der Teufelskreis hat begonnen.

Trendumkehr bei den Älteren

Die klassischen Einsamkeitsfallen wie Armut, Alter oder Krankheit sind heute nur noch ein Teil im Gesamtbild der Ursachen. Was die älteren Menschen betrifft, scheint sich sogar eine Trendumkehr anzudeuten. Hier gibt es immer mehr Partnerschaften, während die Jungen bei diesem Thema immer zögerlicher werden.

75 Prozent der 18- bis 29-Jährigen in Deutschland leben heute ohne Partner. «Hochqualitative Partnerschaften gelten als ein zentraler Schutzfaktor vor Einsamkeitsbelastungen», heisst es im «Einsamkeitsbarometer», das Bundesfamilienministerin Lisa Paus von den Grünen im Mai offiziell vorstellte.

Sie muss sich jetzt in Sachen Isolation hochqualitativ mit den Deutschen und vor allem mit den jungen Deutschen verpartnern. Bisher hat das noch nicht so gut geklappt. In wolkiger Unschuld beschreibt Lisa Paus vor dem Ethikrat die Corona-Jahre und wie sie «gerade beim Thema Einsamkeit manches noch einmal anders durcheinandergewirbelt» haben.

Paus’ «Einsamkeitsbarometer» spricht von den Pandemiemassnahmen, als wären sie unabwendbarer Teil einer Naturkatastrophe gewesen. Das ist sogar dem hoch vorsichtigen Mediziner Manfred Spitzer zu viel: «Es war falsch, die Menschen zu isolieren. Wenn man etwas aus Corona gelernt hat, dann das.»

Die Familienministerin hat versprochen, dem Komplex Einsamkeit politisch künftig weit mehr Relevanz zu verleihen. Das wird auch notwendig sein. Allen Daten zum Trotz ressortiert das Thema im grünen Ministerium immer noch bei den Seniorenfragen.

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