Die Wirtschaft muss Herausforderungen bewältigen. Deshalb muss aber niemand panisch werden. Der Leitartikel.
Frankfurt – Deutschland ist wieder der kranke Mann Europas, liest man derzeit. Der Standort habe seine besten Jahre hinter sich, vor uns lägen Deindustrialisierung und Abstieg. Die Warnungen kommen von Unternehmensverbänden, von den Oppositionsparteien CDU und AfD wie auch von der Teilzeit-Oppositionspartei FDP.
Ihre Klagepunkte: Die teure Energie lässt deutsche Firmen ins Ausland flüchten, insbesondere in die USA und nach China, wo zudem Milliardensubventionen locken. In Sachen Digitalisierung liege Deutschland hoffnungslos hinter den USA zurück und in Sachen E-Mobilität hinter China. Von interessierter Seite aus wird hier ein Endzeitszenario entworfen, wobei einige Tricks eingesetzt werden.
Wirtschaft stagniert: Deutschland nicht auf Änderungen vorbereitet?
Die Klage beginnt meist mit dem Verweis auf die aktuell stagnierende Wirtschaftsleistung. Daran angeschlossen wird die Warnung vor tiefgreifenden Veränderungen, auf die Deutschland nicht vorbereitet sei: Digitalisierung, Elektrifizierung, Ausbau erneuerbarer Energien, Künstliche Intelligenz und anderes. Die aktuelle Wachstumsschwäche wird damit zu einer Art Vorbote kommender Verwerfungen, obwohl beide erst einmal nichts miteinander zu tun haben.
Das eine ist die derzeit lahme deutsche Konjunktur, an der Inflation, hohe Zinsen und geringere globale Nachfrage schuld sind. Das andere sind die strukturellen Entwicklungen der Zukunft. Durch die – unzulässige – Verknüpfung beider können die Warnerinnen und Warner den Eindruck erwecken, die von ihnen prognostizierte Krise sei eigentlich schon da. Ist sie aber nicht.
Die deutsche Wirtschaft stagniert zwar im zweiten Quartal. Doch die Debatte darüber, wie sie wieder besser in Gang kommt, hat erst begonnen.
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Dem Zweck der Dramatisierung der Lage dient auch der Hinweis, sowohl die privaten Haushalte wie auch die Industrie in Deutschland litten unter den hohen Energiekosten. Die Bevölkerung soll sich also vorstellen, ihre eigenen Geldnöte seien eigentlich das gleiche wie die Sorge von BASF & Co um ihre internationale Konkurrenzfähigkeit. Dabei handelt es sich auch hier um zwei getrennte Probleme: auf der einen Seite die Armut der Menschen, auf der anderen die Geschäftskalkulationen der Unternehmen.
Letztere leiden dabei weit weniger unter den Energiekosten als oft berichtet wird. Für die meisten Dienstleister spielen sie ohnehin keine große Rolle. Und auch nicht alle Industriebereiche sind gleichermaßen abhängig vom Strom- oder Gaspreis.
Deutsche Autobauer 2023 mit Milliardengewinnen
Zwar wird die Chemiebranche gerne als Beispiel dafür angeführt, wie schwer es das Verarbeitende Gewerbe in Deutschland haben soll. Allerdings ist die energieintensive Chemie eben kein typisches Beispiel, sondern ein Extremfall. Das mag auch erklären, warum sich viele aus der Industrie gar nicht so richtig für einen staatlich subventionierten Strompreis begeistern können.
Vor dem Absturz, so hört man, soll auch die deutsche Autoindustrie stehen. Beim Geschäft mit Elektrofahrzeugen liege sie abgeschlagen hinter dem US-Konzern Tesla, die Zukunft gehöre zudem chinesischen Herstellern, die die Batterietechnologie dominieren. Doch auch das sind Prognosen.
2022 war Volkswagen weltgrößter Autobauer, im ersten Halbjahr 2023 gab es ein Absatzplus von 18 Prozent. Wie auch Mercedes und BMW erzielte VW zuletzt Milliardengewinne. Verantwortlich dafür sind zwar vor allem Verbrennermodelle. Doch haben die Konzerne dadurch viel Pulver in der Kammer: Für Forschung und Entwicklung stehen ihnen Abermilliarden zur Verfügung, 2021 stellte der Autosektor 42 Prozent aller F&E-Ausgaben der deutschen Industrie. Ihre Aufholjagd bei der Elektromobilität ist nur eine Frage der Zeit.
Gegen die These einer baldigen Deindustrialisierung spricht auch, dass Deutschland in Sachen Roboterdichte, Patentanmeldungen und industrielle Wertschöpfung international weiter ganz vorne mitspielt. Der Anteil der Bruttoanlageinvestitionen an der Wirtschaftsleistung lag in den vergangenen Jahren stets etwas höher als im vielgelobten Investitionsparadies USA.
„Deindustrialisierung“ bedeutet nicht gleich Katastrophe
Und schließlich muss „Deindustrialisierung“ auch keine Katastrophe bedeuten. Während in Deutschland die industrielle Wertschöpfung noch bei rund 20 Prozent der Wirtschaftsleistung liegt, ist dieser Anteil in den vergangenen Jahrzehnten in den USA auf elf Prozent gesunken, in Frankreich auf neun Prozent – beide Ökonomien sind darüber nicht zusammengebrochen.
Ohne Zweifel steht die deutsche Wirtschaft vor großen Herausforderungen. Das Schüren von Panik aber dient offensichtlich einer Agenda: Die politische Opposition stellt sich als Retterin dar und wirbt so um Wählerstimmen. Managerinnen und Manager wiederum sehen eine Chance, ihren Wünschen mehr Nachdruck zu verleihen, etwa beim „Bürokratieabbau“ oder Anwerben von Fachkräften.
Verzweifelt sind sie offensichtlich nicht. Schließlich sehen laut Elite-Panel des Allensbach-Instituts zwei Drittel der Führungsspitzen aus der Wirtschaft mehr Chancen als Risiken durch Investitionen in Klimaschutz und Nachhaltigkeit. Der Aktienindex Dax scheint das zu bestätigen: Er erreichte zu Wochenbeginn ein Rekordhoch. Der kranke Mann ist noch ganz munter.
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