In den Jahren der Corona-Krise saß das Geld locker, Europas Staaten gaben Milliarden Euro aus und durften die strengen EU-Haushaltsregeln ignorieren. Von Lissabon bis Helsinki stützten die Regierungen ihre Wirtschaft, retteten Unternehmen oder senkten Steuern und entlasteten so in Lockdown-Zeiten ihre Bürger. Das waren wichtige Kniffe, um einen schweren wirtschaftlichen Abschwung zu verhindern. Jetzt, drei Jahre nach Ausbruch der Pandemie und ein Jahr nach dem Beginn des russischen Angriffs auf die Ukraine, ist der europäische Schuldenberg gewaltig. Das verlangt nach einer Lösung, mit dem schwierigen Anspruch, weder Europas Wirtschaft per Sparzwang auszubremsen noch den Spielraum für Staatsausgaben zu weit zu fassen.
Die EU-Kommission fordert von den Mitgliedstaaten deshalb zunächst mittelfristige Haushaltsdisziplin. Noch bis Ende des Jahres bleibt der Stabilitätspakt ausgesetzt, von 2024 an sollen dann die sogenannten Maastricht-Kriterien wieder gelten. Sie verpflichten die 27 EU-Mitglieder, ihren Schuldenstand auf maximal 60 Prozent und die Neuverschuldung auf drei Prozent der Wirtschaftsleistung zu begrenzen.
Rückkehr zu den Vor-Pandemie-Regeln gilt als “unsinnig”
Es sei an der Zeit, “den Fokus stärker auf das künftige Wachstum und die Schuldentragfähigkeit” zu richten, sagte Valdis Dombrovskis vergangene Woche, als der Exekutiv-Vizepräsident der EU-Kommission die Leitlinien für die Haushaltspolitik der Mitgliedsländer vorstellte. Dabei solle zuerst Schluss sein mit den breit angelegten Staatshilfen wegen der zwischenzeitlich drastisch gestiegenen Energiepreise.
Einen harten Schnitt mit einer Rückkehr zum alten Regime soll es mit der obersten EU-Behörde aber nicht geben. Wirtschaftskommissar Paolo Gentiloni nennt es “unsinnig”, zur Anwendung der bestehenden Regeln zurückzukehren, als wäre nichts geschehen. 16 der 27 EU-Mitglieder werden nach Pandemie und Kriegsausbruch 2023 gegen die Schuldenregeln verstoßen, schätzt die Kommission, darunter auch solvente und finanzpolitisch restriktive Länder wie Deutschland oder die Niederlande. Streng genommen müsste die Kommission dann Defizitverfahren eröffnen und diesen Staaten zusätzliche Maßnahmen aufzwingen, um ihre Schulden zu senken. Das soll erst von Frühjahr 2024 an wieder geschehen.
Mit ihren aktuellen Haushaltsleitlinien greift die Kommission einer Reform des Stabilitäts- und Wachstumspakts vor, über die eigentlich noch verhandelt wird. Die Behörde prüft die länderspezifischen Ausgabenpläne jährlich im Frühling und will sich diesmal bereits an ihren Reformideen orientieren. Die Mitgliedstaaten sollten ihre Budgetpläne nach den neuen Regeln aufstellen, sagte Dombrovskis. Sehr zum Unmut Deutschlands: “Inakzeptabel” findet dies Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP). “Solange wir uns nicht auf ein neues Regelwerk geeinigt haben, muss das geltende Recht gelten, die Kommission kann hier nicht quasi durch die Hintertür Fakten schaffen.”
Die Gespräche über eine Neufassung des Stabilitäts- und Wachstumspakts laufen seit Monaten, in der Hoffnung, sie noch bis zum Ende der EU-Legislaturperiode im Frühjahr 2024 abzuschließen. Im November hatte die Kommission erste Vorschläge gemacht. Hoch verschuldete Euro-Staaten wie Griechenland und Italien sollen demnach mehr Zeit und Spielraum bekommen, ihre Verbindlichkeiten zu senken.
Angedacht ist, dass in Zukunft jedes Land einen individuellen Plan zum Schuldenabbau mit der Kommission vereinbart. Die Behörde würde die Haushaltspläne nicht mehr auf Jahressicht, sondern über einen Zeitraum von bis zu sieben Jahren beurteilen. Im Gegenzug sollen bei Verstößen schneller Strafen drohen.
Im Frühjahr beginnt das Gezerre um einen Kompromiss
Eine baldige Einigung ist unwahrscheinlich, dazu liegen die Positionen noch zu weit auseinander. Erste Fortschritte sind aber greifbar. Bei ihrem Treffen in Brüssel an diesem Dienstag wollen die EU-Finanzminister über ein Papier abstimmen, mit dem sie sich auf Eckpunkte einer Reform verständigen. Ein Gesetzesvorschlag der Kommission könnte im April folgen. Das Gezerre um einen Kompromiss wird danach erst richtig losgehen: zwischen Fans lockerer Schuldenpolitik wie Frankreich und Italien und Spardiktat-Anhängern wie Deutschland und Österreich; innerhalb des EU-Parlaments, später auch zwischen Kommission, Parlament und Mitgliedstaaten.
Lindner hätte sich gewünscht, dass die Kommission schon in diesem Jahr wieder Defizitverfahren eröffnet, wenn Staaten gegen die Drei-Prozent-Regel verstoßen – die Regierungen erhielten also eine Art blauen Brief. Das wäre “ein wichtiges Bekenntnis zu einem regelbasierten System gewesen”, sagte er. “Diese Chance hat die Kommission leider vertan.” Die Chance also, ein solches Verfahren auch gegen Deutschland zu führen.