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Der Westen hat Russland die Türkei auf dem Silbertablett serviert. Das ist nicht gut für Deutschland, Europa und die Idee von der Demokratie. 

Erdogan bei Putin im Kreml, nach dem Putsch, im Jahr 2017.

Erdogan bei Putin im Kreml, nach dem Putsch, im Jahr 2017.AP POOL

Die Türkei ist mit Sicherheit keine lupenreine Demokratie. Präsident Recep Tayyip Erdogan hat mithilfe seiner AKP-Koalition in den vergangenen Jahren die Grundrechte und bürgerlichen Freiheiten massiv eingeschränkt. Er hat sich nach dem Putschversuch von 2016 entschieden vom Westen abgekoppelt. Er hat den Putsch zum Anlass, manche sagen: als Vorwand genommen, um die Türkei autoritär auszurichten.

Über den Putsch gibt es bis heute keine Klarheit. Erdogan selbst macht seinen ehemaligen Mentor und Partner, den Islamistenprediger Fethullah Gülen, verantwortlich. Der Prediger lebt in Pennsylvania. Er vertritt das Konzept eines milden, weltoffenen Islamismus – also genau jene Geschmacksrichtung, mit der Erdogan dank Gülen als „Gemäßigter“ in der Türkei seine ersten Wahlen gewann. Dann zerstritten sich die beiden. Erdogan vertrat anfangs die Theorie, die Amerikaner steckten hinter dem Putsch. 2017 erließ der türkische Chefankläger sogar einen Haftbefehl gegen den CIA-Beamten Graham Fuller. Im Lauf der Jahre wurden die Attacken gegen die Amerikaner zwar leiser. Doch noch 2019 warnte Ali Kemal Aydın, der türkische Botschafter in Berlin, vor der Gülen-Bewegung . Deutschland habe, wie viele andere Länder, „das Ausmaß der Bedrohung noch nicht begreifen können“. 

Das Misstrauen war gesät, und es sitzt tief. Natürlich können weder Deutschland noch die EU für Erdogans autoritäre Linie verantwortlich gemacht werden, wie dies der deutsche EU-Kommissar Günter Verheugen im Interview mit dieser Zeitung dargelegt hat. 

Doch haben Deutschland und die EU wenig bis nichts unternommen, um als Brückenbauer zu agieren. Deutsch-türkische Politikerinnen und Politiker bekamen erst in den vergangenen Jahren zumindest punktuell die Chance, in der deutschen Politik zu reüssieren. Ihre Expertise im Hinblick auf die Türkei wurde nicht genutzt, zum Teil aus einer tief sitzenden Überheblichkeit der deutschen Eliten gegenüber den Türken im Land. Nach dem Putsch forderte Bundeskanzlerin Angela Merkel von den türkischstämmigen Bürgern Loyalität zu Deutschland. Viele Türken fanden das anmaßend und diskriminierend. Plötzlich zog sich eine Mauer hoch zwischen Deutschland und der Türkei, den zwei Staaten, die eigentlich historisch so vieles verbindet. Hätte man nach dem Putsch mit Fingerspitzengefühl versucht, die demokratischen Kräfte in der Türkei zu stärken, ohne Erdogan zu provozieren – wer weiß, vielleicht hätte die Geschichte einen anderen Verlauf genommen. 

Erdogan war nach dem Putsch extrem misstrauisch geworden. Er schloss eine informell-opportunistische Achse mit Russlands Präsident Wladimir Putin. Die Zusammenarbeit ist militärisch, energie- und handelspolitisch. Erdogan blickt auf sein Volk ähnlich wie Putin auf die Russen: Die Herrscher gewähren den Menschen eine Großmacht-Illusion und knechten sie im täglichen Leben mit harter Knute. So haben die Kriegsherren den Rücken frei für Eroberungszüge, die Russen in der Ukraine, die Erben des Osmanischen Reichs in Syrien.

Mit Putin als Vorbild verschärfte Erdogan seinen Kurs innenpolitisch und begann mit der Verfolgung von Andersdenkenden und Regimekritikern. Nicht nur einzelne Journalisten wie Can Dündar wurden drangsaliert und außer Landes getrieben. Ganze Medienmarken wie die liberale Zaman-Gruppe wurden geschlossen. Andere Medien wurden zwangsverstaatlicht oder unterwarfen sich freiwillig dem Diktat der Regierung. Im Beamten- und Justizapparat wurden Säuberungen durchgeführt. Auch heute noch werden Regierungskritiker als Fetö-Terroristen verfolgt, Fetö steht für die Gülen-Bewegung. Der Konflikt reicht bis nach Deutschland. Vergangene Woche durchsuchten deutsche Behörden die Wohnungen zweier Journalisten der Zeitung Sabah in der Nähe von Frankfurt am Main. Das türkische Außenministerium sagte, das Vorgehen „gegen die freie Presse“ offenbare eine deutsche Doppelmoral. Die beiden Journalisten waren von Gülen-Anhängern angezeigt worden, weil die Zeitung die Adresse des Exiljournalisten Cevheri Güven veröffentlicht hatte. Güven musste die Türkei verlassen, weil Erdogan ihn auf eine Todesliste gesetzt hatte.

Ebenfalls nach der Wahl wurde Haftbefehl gegen den deutschen Journalisten Deniz Yücel erlassen. Ein Gericht in Istanbul traf die Entscheidung kürzlich gegen den bereits von 2017 bis 2018 inhaftierten Yücel, wie die Schriftstellervereinigung PEN Berlin und die Zeitung Welt, für die Yücel arbeitet, übereinstimmend mitteilten. Der Haftbefehl bezieht sich auf ein Strafverfahren gegen Yücel wegen „Verunglimpfung des türkischen Staates und der türkischen Nation“ und „Beleidigung des Staatspräsidenten“ im Zusammenhang mit Artikeln des Autors.

Die Fälle zeigen wie mit dem Brennglas auch den Grundfehler der deutschen Außenpolitik in Sachen Türkei. Deutschland hat in elementaren Themen keinen Einfluss mehr auf Ankara, im Gegenteil: Regierungskritiker müssen den langen Arm des Erdogan-Regimes sogar in Deutschland fürchten. Die große außenpolitische Linie fehlt. Opportunismus, Ahnungslosigkeit, Vorurteile prägen die Entscheidungen.

Der Fehler liegt lange zurück: Statt sich mit der Türkei auf ein realistisches Partnerschaftsmodell zu verständigen, mit dem die vielen komplementären und gemeinsamen Faktoren zum Nutzen beider Länder hätten gestärkt werden können, schickte man die Türkei in die Illusion einer EU-Vollmitgliedschaft. Dann hielt man Ankara so lange hin, bis mit dem Putsch eine echte Zäsur kam. Deutschland reckte via Jan Böhmermanns „Schmähgedicht“ gegen Erdogan den Türken den virtuellen Stinkefinger entgegen – und das war’s dann. Die Türkei wandte sich von der Westbindung ab und öffnete sich nach Russland. Der Traum von der Demokratie, den viele Kemalisten schon lange verwirklicht hatten, er war verflogen. Erdogan etablierte eine autoritäre Herrschaft. Die herrschenden Netzwerke bedienen sich, die Leute werden an der kurzen Leine gehalten. Wer es schafft, auszuwandern, hat Glück gehabt – außer, wenn er dann in Deutschland in ein ausländerfeindliches Umfeld gerät, und dann weiterzieht in ein offeneres Land. 

Erdogan denkt nicht daran, die westlichen Sanktionen gegen Russland zu unterstützen, im Gegenteil: Für ihn wird das Geschäft immer besser, je härter die Embargos des Westens sind. Als Nato-Mitglied ist die Türkei in der Lage, den Westen zu gängeln und zu erpressen – wie etwa im Fall der Aufnahme Schwedens, die Ankara bis heute blockiert. Trotz ihrer Nato-Mitgliedschaft lancierte die Türkei eine völkerrechtswidrige Invasion in Syrien. Sie bleibt ungestraft. Die Türkei hat ihre Grenzen verschoben, ohne dass es Proteste oder gar eine Ächtung gegeben hätte. Erdogan macht auch nicht die geringsten Anstalten, die eroberten Territorien zurückzugeben. Geschickt hatte Erdogan nämlich das Elend der Flüchtlinge aus Syrien genutzt, um mit der EU einen widerlichen Menschenhandels-Deal zu schließen: Die Türkei bekommt Milliarden-Zuwendungen vom europäischen Steuerzahler, weil sie die 3,5 Millionen syrischen Flüchtlinge von Europa fernhält.

Schon unter Angela Merkel praktizierte Deutschland eine verlogene Türkei-Politik: Man sagte offiziell Ja zum EU-Beitritt, inoffiziell sagte man, man denke gar nicht daran. Ein wenig erinnert das alles an die Minsk-Verhandlungen, wo ja erst neulich herauskam, dass Deutschland nur Scheinverhandlungen geführt hat.

So ist Deutschland heute zum rat- und tatenlosen Zuschauen verdammt, wenn es um ein Land geht, mit dem man eigentlich eine enge strategische Partnerschaft unterhalten sollte. Doch Deutschland vertrat nicht seine eigenen Interessen, sondern blickte stets ängstlich zum großen Bruder jenseits des Atlantiks, um sich zu orientieren. Der war jedoch selbst nicht entschlossen. In Washington gibt es Erdogan-Gegner und Befürworter. Doch für die Amerikaner ist die Türkei weit weg, ähnlich wie die Ukraine. Es gibt vor allem wirtschaftliche Interessen. Weil sich vor allem Deutschland hier nicht emanzipieren konnte, wird es eine europäische Achse in Richtung Asien vorerst nicht geben. Eine solche Achse hätte der Welt und Europa gutgetan – im Hinblick auf Frieden, Menschenrechte und Demokratie wie auch auf gemeinsame, wirtschaftliche Prosperität.

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